99 Sorgen und trotzdem ein verdammtes Glück

Habe ich gestern von einem Befreiungsschlag gesprochen? Von einem Mindestmaß an Reisekomfort?

Dass diese Aussagen heute noch wahrer werden sollten, damit war nicht zu rechnen. Schon gar nicht auf diese Art und in diesem Ausmaß, zur Verhöhnung aber noch auf eine Art, für die wir eigentlich dankbar sein müssen. Eigentlich.

Dabei begann der Tag sehr gut. Die Freude über die anhaltende Öffenbarkeit der Seitentür macht uns glücklich und zufrieden; unser Frühstück können wir ohne monumentale Störung durch Emus vor dem Auto mit Meerblick über den Klapptisch bringen und unser erster Stopp beim Eagle Bluff war auch sehr sehr schön. Sogar ein paar winzig kleine Haie sehen wir weit unten in Meer. Darauf folgen Hunderte Kilometer Geradeausstraße in "50 shades of red", unterbrochen nur durch eine kurze Pause auf einem roten Sandparkplatz ohne alles außer Fliegen, also ohne Empfang, ohne Schatten, ohne Infrastruktur – sogar unseren Snack müssen wir fliegenbedingt im Wagen einnehmen, der gefühlte 50 Grad hat. Von da an geht es rasant bergab.

Gegen Mittag kommen wir endlich nach Carnarvon, wo wir die heutige Halbzeit einer geplante Mörderdistanz von 600 km erreichen und wieder bunkern wollen und müssen. Die Vorfreude auf einen Woolworths-Supermarkt ist groß. Zu groß? Wir stehen am ersten Kreisverkehr in der Ortseinfahrt, als der Wagen abstirbt und nicht mehr anspringen will. Hinter uns bildet sich eine Schlange von Autos, die irgendwann kollektiv beschließt, dass sie uns durch gemeinschaftliches Schieben von der Straße befördern, da wir den gesamten Verkehr blockieren. Wir rufen den Vermieter Apollo an, der uns verspricht, einen RAC-Vertragsnehmer (also der hiesige Automobilclub) vorbeizuschicken. Der RAC-Mitarbeiter kommt kurz später und stellt zu seinem und unserem Entsetzen fest, dass dieser Wagen scheinbar mit fehlendem Kühlerventilator an uns übergeben wurde. Es sieht so aus, als ob es einen Känguruunfall gegeben hätte; die Reparaturen wurden nur mangelhaft durchgeführt: Kabel hängen teilweise lose herum. Wir hüpfen in seinen Wagen (hüpfen ist dabei hinten zwischen all den Werkzeugkisten etwas übertrieben) und fahren mit ihm zur Werkstätte. Unser Auto folgt etwas später in enem Abschleppmanöver. Diverse Untersuchungen und Messungen ergeben Diagnosen wie: "You've got yourself a bit of a drama here" oder "Something is very seriously wrong with this car" und die Aussicht "that this car is not going anywhere anytime soon anymore".

Man könne eigentlich nichts messen, da die Elektronik ziemlich spinnt (was wir im Kleinen schon länger bemerkt haben, aber einfach auf das Alter des Fahrzeugs geschoben haben und uns damit herumgefrettet haben), aber eventuell könne der Dorfelektriker noch einen Blick darauf werfen, obwohl dieser angeblich auf drei Wochen ausgebucht sei. Da wir heute von hier sicher nicht mehr wegkommen, weil Apollo noch keine Entscheidung über die weitere Vorgehensweise getroffen hat (am liebsten wäre ihnen, man würde alles notdürftig flicken), gewährt man uns 120 AUSD Budget für die heutige Übernachtung. Der relativ zentral gelegene Campingplatz hat sogar eine Cabin frei – wir gönnen uns die Luxus-Cabin, die man uns aus Mitleid von 150 auf 125 AUSD reduziert. Somit haben wir seit langem wieder Platz, ein eigenes Bad (sogar mit Badewanne), einen Geschirsspüler, zwei Flachbildfernseher, eine Stereoanlage, einen Hausgecko und andere Dinge, die wir heute alle nicht brauchen, da wir ja nur ein kleines Overnight-Set zusammenpacken und die restlichen Dinge (fürs Erste) im maroden Wagen lassen. Wobei mein erster Blick in die Küchenzeile sofort checkt, ob es nicht vielleicht doch ein Backrohr für eine kleine Frustbackorgie gibt. Aber nein, gegen Frust gibt es hier nur eine Badewanne, die ich aber gerne zu testen bereit bin.) Aber immerhin: Der nette RAC-Mitarbeiter führt uns sogar auf den Campingplatz!

Das Skurrile an der Situation: Das ganze Szenario ist eigentlich ein irres Glück. Wenn uns der Wagen 30 Minuten vor unserem Eintreffen in Carnarvon mitten im Nirgendwo nicht mehr angesprungen wäre, hätten wir mehrfach Pech gehabt: 50 Grad ohne Schatten aber mit Fliegen und kein Telefonempfang, d.h. angewiesen darauf, dass uns wer als Autostopper in die Stadt mitgenommen oder für uns von der Stadt aus den RAC angerufen hätte, was aber schlecht gewesen wäre, da immer zuerst Apollo zu informieren ist. Ebenfalls skurril: dieser Ort bietet wirklich rein gar nichts mit Ausnahme eines Supermarktes und eines guten Pizzaladens und der schönsten Cabin, die wir jemals hatten, wenn auch auf einem sehr staubigen aber zumindest citynah gelegenen Campingplatz, aber Vodafone-Empfang, was ebenfalls ein Glück ist. Denn alle anderen Orte weit und breit unterstützen unser Telefon nicht und alle unsere Telefonate und Recherchen wären noch mühsamer gewesen, als sie ohnehin schon sind.

Unser Stress ist hoch, denn erstens ruft uns bis zum Abend niemand mehr zurück. Zweitens sondieren wir im Internet die möglichen Alternativen und stellen fest: Die Busse sowohl zurück nach Perth (was ein bisschen wie Rausfliegen beim Mensch-ärgere-dich-nicht wäre, da wir uns gerade mühsam all die Hunderten Kilometer von Perth nach Norden gearbeitet haben) und Broome (wo wir eigentlich gar nicht hinwollten, da es zu weit im Norden liegt) sind alle (sie fahren nur dreimal pro Woche) für die nächsten 8 Tage ausgebucht. Und nur in diesen beiden Städten gäbe es eine Apollo-Station, wobei nicht gesagt ist, dass es einen verfügbaren Ersatzwagen für uns gäbe. Flüge gibt es von hier keine. Taxis sind bei diesen Entfernungen nicht machbar. Hierbleiben ist noch viel unmachbarer, denn die Antidepressiva, die ich hier bräuchte, würde mir Apollo gewiss nicht finanzieren wollen. Avis betreibt hier eine PKW-Station, doch alle Fahrzeuge sind erstens hier zurückzugeben und können zweitens nicht mittels Einwegmiete in Broome abgegeben werden und außerdem ist nicht klar, ob da etwas verfügbar wäre bzw. wie wir nach der Rückgabe des ungewollten PKW von Carnarvon weiterkämen. Jetzt bin auch ich am Ende meiner Weisheit und entsprechend gespannt, was Apollo denn morgen sagen wird, wenn wir endlich jemanden erreichen. Der auf mein Urgieren um 17:45 Uhr versprochene Rückruf innerhalb einer Stunde ist auch 2 Stunden später noch nicht gekommen. Und wer all die Mehrkosten für die Cabins tragen würde, die wir bräuchten, wenn wir nur mehr mit einem PKW unterwegs sind, ist ebenfalls fraglich. Mein Vertrauen in Apollo ist dahin. Wieso die hier eine derartige Dominanz aufbauen konnten, ist mir ein einziges Rätsel. Bei einem Second-Hand-Autoladen steht ein alter Pickup mit dem Schild "For Hire" – vielleicht wäre das unsere sicherste Alternative, wenngleich ich bezweifle, dass Apollo dafür die Mehrkosten übernehmen würde.

Ich hadere ein wenig (falsch: sehr, SEHR) mit dem Schicksal: Ist das die "Strafe" (und wenn ja, von wem) dafür, dass wir unsere Winter Break von 99 auf 111 Tage ausdehnen wollen? Waren eineinhalb Zyklone noch immer nicht genut? Ist das ausgleichende Gerechtigkeit, und wenn ja, wofür? Habe ich das zugehörige Glück bereits konsumiert oder liegt es noch vor mir? Wozu kann das gut sein? Ausnahmsweise fällt nicht einmal mir etwas ein, was diesem Zwischenfall einen Sinn geben könnte. Was bedeutet das alles? Aus heutiger Sicht definitiv einen Aufschwung für den österreichischen Fremdenverkehr, denn ich bin sehr geneigt, künftig alle meine Urlaube nur mehr maximal 250 km von Wien entfernt und das nur innerhalb Österreichs, zu verbringen. Man sagt, Vorder- und Hinterstoder sind auch schön. Dessen kann ich mich in den nächsten 15 Jahren ja jährlich mehrfach vergewissern.

 
 

 


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