Berlin, Sonntag, 9 Uhr

Berlin blendet uns, als wir an diesem Sonntag Morgen den Vorhang öffnen und unser Blick auf den Fernsehturm fällt, der voll Tatendrang aus dem blauen Himmel lugt und uns damit ansteckt.
Wir tun, was wir nicht lassen können, schwingen uns aufs Rad und fahren, heute nur leicht frierend, frühstücken. Es geht ins Deli von Cynthia Barcomi im Viertel Kreuzberg. Garmin, Stadtplan und Wegweiser sind heute mehr im Reinen miteinander als gestern, sodass ich nur selten zu Fotostopps komme und nur einmal zu hören bekomme: „Such dir was zu fotografieren, ich muss mich mal orientieren.“ Das Barcomis-Café in Kreuzberg gefällt mir nicht ganz so gut wie ihre andere Filiale bei den Hackeschen Höfen, die wir gestern gesehen haben, aber das Frühstück ist toll. Bagel- und Brotvariationen inklusive Kartoffelbrot (wie so was geht, muss ich unbedingt mal herausfinden) mit verschiedenen Frischkäseaufstrichen (Meerrettich-Kapern finde ich besonders gut) und dann das genialste Angebot von allen. Da Barcomi’s auf amerikanisch angehauchte Torten spezialisiert ist, kann man sich hier vier halbe Kuchenstücke nach Wahl auf einem Teller mischen lassen. Zu zweit, mit dem nötigen Fahrradfahrhunger, kann man sie auch zur Hälfte vertilgen. Meine Favoriten: Apple Walnut und der Blueberry Banana Cheesecake! Weniger gut finde ich die Tatsache, dass man ihre Kochbücher hier zwar kaufen kann, aber nicht darin schmökern darf. Angeblich haben die Leute dann ihre Rezepte abgeschrieben. In jeder anderen Buchhandlung können sie das auch tun, nur dass dann eben die Buchhandlung den Gewinn einstreift. Aber bitte, dann schmökere ich eben nicht und kaufe auch nicht – dabei wäre ich schon in Sonntagsshoppinglaune gewesen.
 
Heute ist es vergleichsweise wie ausgestorben hier, keine Spur mehr von den 100.000 Demonstranten gestern, nur eine kleine Markt- und Kunstmeile schafft es, mehr als 20 Personen gleichzeitig an einen Ort zu bannen.
 
Zurück radeln wir – wieder begeistert über das großartige Radnetz, das sogar eigene Fahrradabbiegespuren vorsieht – dann bereits durch fast angenehm sonnige Straßen. Nur aus der Fahrt rauf auf den Fernsehturm wird nichts, denn dazu müssten wir mehrere Stunden aufs nächste freie Zeitfenster warten, was wir nicht wollen. Also zurück zum Hotel und auf nach Leipzig!
 
Das Autoreisen hat ja so seine Vorteile: da Max der designierte Fahrer ist, bleiben mir zahlreiche weitaus erbaulichere Aktivitäten: Planen der nächsten Stopps, Water Management, Bonbon-Management, Musik-Management und Sleep Management, letzteres vor allem zu meinen eigenen Gunsten. So gut wie auf der Autobahn zwischen Berlin und Leipzig schläft es sich selten wo. Okay, Dresden-Berlin war auch nicht übel, aber durch den starken Stop & Go-Verkehr bei der Umfahrung von Berlin doch etwas unruhig. Weitere Vorteile: keinerlei Gepäcksbeschränkungen! Nicht dass ich so viel in den Urlaub mitnehmen würde, aber wann hat man schon die Freiheit, 10 Packungen Spezialgelierzucker von Sweet Dreams, 3 wundernette Marmeladengläser, gefüllt, aus Schleswig-Holstein, einen wirklichen kleinen Berliner Bär, 1 buntes Windrad (geschenkt in einem Laden, jetzt in der Autotürinnentasche), 2 kleine Gläschen Rügener Sand (jetzt in der anderen Autotürinnentasche), 1 Paar Schuhe aus Leipzig, 1 Krokodilkeksausstecher, 1 Paar ausgeflippte aber dank Wetterglück noch jungfräuliche Gummistiefel aus Sellinn, 1 große Flasche Champagner in fantastischer Verpackung aus dem KaDeWe, 2 kleine Frühstücksbrettchen, 2 neue Stempel, 2 Päckchen Stockrosensamen (auja!), 7 Lese- und 2 Kochbücher, Dekogläschen, 1 Herren-Wintermantel, kleine Geschenke für liebe Freundinnen, allerlei Keramik für die nächsten Food Fotos sowie zahlreiche Bogen Geschenkpapier (für die Hintergrundgestaltung der Food Fotos) unbeschadet nach Hause zu bringen? Dann wären da noch diverse Woll-Errungenschaften in verstrickter und unverstrickter Form sowie meine niegelnagelneuen Stricknadeln! Der Adventkalender in Leuchtturm-Form sowie meine Hexenkarten und Hexenposters runden die Innenausstattung unseres Autos nun ab – ein Kuriosum, das jeden Autodieb, der auf die wahnwitzige Idee kommt, unser Auto aufzubrechen, sofort in Ohnmacht fallen ließe. Hätte ich die Gelegenheit, ihm zu versichern, dass WIR das alles zwar auf den Fahrrädern herangeschafft haben, er dafür aber einen mittleren LKW braucht, wäre er wohl endgültig entmutigt. (Irgendwie erinnert mich der Versuch, nach 9 Tagen zu rekonstruieren, welche Kleinigkeiten uns in die Taschen gehüpft sind, ein wenig an Rudi Carrells „Am laufenden Band“. Ich wäre vermutlich die schlechteste Kandidatin aller Zeiten.)
 
Das in Leipzig gebuchte motel one liegt direkt in der Fußgängerzone, was sehr praktisch, aber auch sehr enttäuschend ist. Nach Dresden und Berlin hätte ich mir eigentlich auch Leipzig sehr gerne erradelt. Macht nichts, dafür sitzen wir an diesem sonnig-herbstlichen Nachmittag dann vor der Nikolaikirche im Lokal „Alte Schule“, schauen dem regen Treiben zu und flanieren dann durch die nette Altstadt. Morgen am Vormittag haben die Geschäfte ja wieder offen – und vor unserer Abreise ist noch ein bisschen Zeit, diese auch von innen zu erkunden.
 
Heute tun wir dann noch, was in Leipzig sonntags sehr beliebt ist. Wir besuchen den Hauptbahnhof! Denn dieser ist voller offener Geschäfte aller Art! So kommt Max doch noch zu einem Wintermantel, wie er ihn in Wien seit 3 Jahren sucht, und ich zu neuen Schuhen. So geht ein wunderschöner Herbsturlaub zu Ende. Schon jetzt vermisse ich mein schwimmendes Häuschen, die Radtouren durch spannende Städte, das Kochen mit fremden Zutaten und sonstige Entdeckungen. Einzig die Fülle unserer Plastiksackerl – Fahrradgewand hier, Schuhe da, Schmutzwäsche dort, Bücher noch dorter – werde ich nicht vermissen. Jetzt hoffe ich nur auf ganz viel Zeit in Wien, um unsere Errungenschaften „abzuarbeiten“, was mit einer weiteren Woche Urlaub schon zu schaffen wäre, wenn wir diese denn hätten!

Kommentare

Berlin, Sonntag, 9 Uhr — Ein Kommentar

  1. Ach ja, Berlin ist trotz des Verkehrs schon eine radlerfreundliche Stadt. Und fast schon berühmt für seine tollen Frühstückscafés.
    Kartoffelbrot wird übrigens mit Kartoffelbrei gemacht! Dadurch wird der Teig wunderbar locker. Ich hatte vor Jahrzehnten mal ein Rezept, hätte ich es noch, würde ich es hier reinkopieren. Es hat wirklich fantastisch geschmeckt.
     

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