Wikipedia-reif: Der kleiner blaue Punkt von Ummanz

Unser letzter Urlaubstag auf Rügen bricht mit dem fast schon gewohnten Sturm, aber auch blauen Himmelsflecken an. Diesmal sind wir schlauer, wir zögern nicht lange und düdeln nicht mit Stadtbesichtigungen herum, sondern fahren mit dem Auto gleich nach Gingst, wo wir uns auf die Räder werfen und loslegen. Wobei: loslegen ist bei diesem Wind (unser Gegenwind heißt hier euphemistisch Vorwind) eine ziemliche Übertreibung.

Meine nagelneue Softshell-Jacke ist wunderbar und so luftdicht, dass ich mir wünsche, auch ein Softshell-Mützchen, eine Softshell-Hose und Softshell-Schuhe zu tragen (nun ja, vielleicht nicht alles in knallorange). Die Jacke ist so dicht, dass der begründete Verdacht nahe liegt, dass ich die Luftpartikel, die ich heute morgen vor der Abfahrt in der Jacke eingeschlossen habe, ohne jegliche Neuzugänge oder Abgänge 35 km über die Insel Ummanz mit mir spazierengeführt habe – blinde Passagiere sozusagen. Das hat schon was!

Wir strampeln über die Brücke auf die Insel Ummanz, wo ich einmal mehr über die unfreundlichen Radwege staune. Dass ein Teil (vermutlich seit vielen Jahren) noch nicht asphaltiert ist und dicke Schlammfurchen als Radweg fungieren (nach dem Regen nicht nur gatschig, sondern auch sehr crosscountrymäßig höchste Konzentration erfordernd), ist dabei das kleinere Übel. Das weitaus größere sind die Betonplatten, die hier als Radstreifen verlegt wurden. Denn irgendwer hatte die glorreiche Idee, Betonplatten mit versenkbaren Griffen zu fertigen. Wobei das "versenkbar" noch der positive Aspekt ist. Doch da, wo die Griffe versenkt wurden, weisen nun alle Betonsteine im Abstand von etwa 30 cm tiefe Löcher auf. Diese sind, was hat man sich da bloß dabei gedacht, so versetzt, dass man entweder betrunken radfahren muss, um dazwischen durchzuschlingern, oder soweit am Rand fahren muss, dass permanent Gefahr droht, in den Abgrund daneben zu rutschen. Der ist mit max. 15 cm zwar nicht besonders tief, aber doch eher unangenehm. Dazu kommt, dass der Wind immer wieder gelangweilt auch ein paar Seitenböen einwirft, die ebenfalls nicht zur geradlinigen Fahrweise beitragen.

Wieder einmal habe ich reichlich Gelegenheit, dem Wind zu trotzen. Das sollte nicht so schwer sein – im Trotzen bin ich gut. Sagt man mir zumindest nach. Nur habe ich normalerweise leichtere Sparring-Partner als den Rügener Wind. Dieser pfeift mir so kalt um meine notdürftig mit einem Stirnband verbundenen Ohren, dass ich an einen ehemaligen Arbeitskollegen denken muss. András war Ungar, ein fescher Mann, immer im piekfeinen Anzug, doch wer ihn im Winter morgens und abends das Büro betreten oder verlassen sah, traute seinen Augen kaum. Denn trotz perfekter Deutschkenntnisse und bester kultureller Anpassung hatte er eine Vorliebe für Russland. Insbesondere für russische Fellflappenmützen. Das sind im Prinzip runde Pelzmützen, die sich dadurch auszeichnen, dass man ihre normalerweise über dem Scheitel mit einem Lederbändchen zusammengebundenen Ohrenflappen bei steifer Brise auch ohrenbedeckend herunterklappen kann, was aus dem feinen Karrieremann im feinen Anzug schnell einen zweiten Ivan Rebroff macht. Und der ist bekanntlich ja nicht jedermanns Fall. An diese Mützen muss ich jedenfalls permanent denken, während ich mich gegen den Wind stemme und kaum wage, das Stirnband mit einer Hand noch weiter herunterzuziehen. Denn kaum lässt man den Lenker auf einer Seite los, fährt der Wind herein und macht, was er will.

Der kleine blaue Punkt auf Ummanz, der in die Geschichte eingehen wird, weil er keinerlei Anfälligkeit für Windböen oder Jammern (hätte mich jemand gehört, hätte er wohl bis in den hohen dreistelligen Bereich mitzählen können, wie oft ich es schaffe, auf 1 km, also in etwa 4 Minuten, die Worte "boah" und "naaa" aus dem letzten Loch zu pfeifen) zeigt, war übrigens Max, sollte ein Geschichtsschreiber das Phänomen des kleinen blauen Punktes von Ummanz in Wikipedia festhalten wollen.

Wir umrunden die Insel Ummanz und kehren dann nach etwa 25 km bei Bauer Lange ® ein, der sich diese Marke tatsächlich hat schützen lassen. Das ist ein paradiesischer Erlebnisgasthof – ein riesiger, alter Bauernhof, der zu einem Kinderparadies umgewandelt wurde, mit Tieren, Treckern in allen Größen und Ausführungen von Plastik bis zu echt, Dumperfahren und einem reichlichen Beschäftigungsangebot für Groß und Klein. Wir entscheiden uns für die Aktivität Kartoffelpellen-und-mit-Butter-und-Salz-essen sowie Bockwurst-in-Kartoffelsuppe-schneiden-und-essen. Das ist das richtige Aufwärmessen für uns durchgefrorene Radler, einer davon (leider nicht jener mit wiki-tauglichen Eigenschaften) mit einem mittleren Zusammenbruch für 4 Personen.

Nach weiteren 10 km sind wir zurück beim Auto in Gingst und verzeichnen somit unseren 125. Rügener Kilometer. Ich inspiziere kurz die Hälfte aller hiesigen Läden am Dorfplatz (zwei an der Zahl), wo uns ein großes Kompliment gemacht wird. Die Verkäuferin des Bücherladens mit handgenähten Ansichtskarten sieht uns in unseren Rad-Outfits etwas befremdet an und fragt uns, ob wir denn bei diesem Sturm wirklich radfahren gehen wollten. Stolz erzählen wir, dass wir bereits 35 km gefahren sind. "Das machen auch nur Touristen!", kommentiert sie unser Tun, setzt aber gleich nach: "Ist aber scheinbar gut für die Figur, so wie Sie beide aussehen!" Hätte sie das vorher gesagt, hätten wir aus lauter Freude über so viel Schmeichelei sicher mehr gekauft!

Im Laden nebenan lerne ich dann – Max wartet derweil im Auto und hat reichlich Zeit, alle Orte Rügens von Varbelvitz bis Volsvitz, Waase bis Wusse alphabetisch zu sortieren und auswendig zu lernen – den langsamsten Mann der Welt kennen. In der Zeit, in der dieser Verkäufer und Besitzer eines Bio-Ladens meine 3 Hexen-Postkarten und 2 kleinen Hexen-Poster in eine Tüte verpackt und 3 x 80 Cent plus 2 x 3 EUR berechnet, hätte ich ihm meine Lebensgeschichte inklusive Details zu jeder Möwe, die ich jemals fotografiert habe, erzählen, einen historischen Roman über die Geschichte von Gingst (dem Standort seines Bio-Ladens) von Null weg erfinden und das Stricken und Nähen von Grund auf erlernen können, was ja prinzipiell nicht falsch wäre. Ich verrate nun aber keine Details dazu, wo man dieses Kuriosum im Single-Tasking (er konnte etwa nicht Karten einsacken und nebenbei Antworten wie "Ja" oder "Nein" geben), denn mehr als 2 Besucher gleichzeitig brächten nicht nur den Laden, sondern den gesamten Ort zum Erliegen. Das wollen wir nicht.

Zur Belohnung für unsere touristischen Mühen fahren wir mit dem Auto über Poseritz heim, wo es ein idyllisches Milch-Café mit Hof-Laden gibt. In diesem an einen Milchbetrieb angeschlossenen Café koste ich einen ganz hervorragenden Sanddornbecher. Wieder einmal ist unser Timing perfekt: kaum im Auto, beginnt es zu schütten und orkanartig (für hier war heute tatsächlich ein kleiner Orkan angesagt) durch die Alleen zu stürmen, dass ich unendlich dankbar bin, bereits mit eingeschalteter Sitzheizung im warmen Auto zu sitzen. Die einzige Frage, die ich bislang nicht klären konnte, hat mit eben dieser zu tun: in welcher Position wäre es möglich, auch die sehr verspannten Schultern von der Sitzheizung auflockern zu lassen und in welcher Position könnte ich auch die klamm gefrorenen Zehen davon wärmen lassen? Gibt es eine Pilates-Position "Schulterwärmer" oder "Heizzehe"?

Ein letzter Stopp steht noch an: der Fischladen im Stadthafen von Lauterbach. Der fangfrische Wels vom letzten Mal war so gut, dass wir uns noch einmal Fisch braten wollen. Diese Möglichkeit, jederzeit ums Eck einen Fischhändler mit frischem Fisch aufsuchen zu können, haben wir in Wien leider nicht. Dabei wäre das weitaus sinnvoller als die immer leere Galerie oder der immer volle Frisörladen in unserer Straße.

"Zuhause" finde ich dann Post vor. Meine liebe deutsche Freundin hat mir nicht nur Kostproben von herrlich klingenden Marmeladekreationen (Mirabelle-Vanille, Kirsch-Espresso und Marille-weiße Schoko-Grand Marnier, yummy) sondern auch zwei Kochhefte geschickt, eines davon habe ich seit Monaten in Wien erfolglos gesucht! Danke nochmal!!!

Und während wir überlegen, wie wir bis Montag Abend die Heimfahrt gestalten werden (wir entscheiden uns für 1 Nacht in Berlin und 1 in Leipzig), pfeift draußen der Wind so ungastlich, dass wir sehr zufrieden sind, unser heutiges Radabenteuer bereits hinter uns zu haben und uns nun den wichtigen Dingen des Urlaubens hingeben zu können: Fisch-in-reichlich-Knoblauch-und-Zwiebel-marinieren, Sehr-heiß-Duschen, Am-Sofa-Lesen, Ausgiebig-Bloggen, Übers-Nachtmahl-Nachdenken und Aufs-Meer-Schauen, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge!

 


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