Ostseeglück, das tiefe blaue

Das Vorgeplänkel: WIEN – PRAG

Freitag Nachmittag, Aufbruch in den Herbsturlaub. Doch schon in Tschechien zeigt sich: wenn man 76 km/h unter dem erlaubten Geschwindigkeitslimit fährt, weiß man, dass irgendetwas nicht stimmt. Tritt dann jedoch gleichzeitig der Fall ein, dass die höchstzulässige Geschwindigkeit 80 km/h beträgt, ist etwas megafaul. Diese Erkenntnis hatte ich in Prag, wo sich das Gewitter weit schneller vertschüsste als der Stau, der mir diese Erkenntnis bescherte und uns eine Verzögerung von 45 Minuten einbrachte.

Der Stau gab mir reichlich Gelegenheit, mich im Regenbogenfotografieren zu versuchen und allerlei Persönlichkeitsanalysen anzustellen. So erfand ich etwa den HMI, den Hobby Mass Index: Während ich eindeutig am obersten Ende dieser Tabelle mein Unwesen treibe, kommt Max selbst bei großzügiger Aufrundung auf eine aalglatte Null. Wobei: als ich einen Tag später in einer ohnehin recht mickrig ausgestatteten Buchhandlung just bei einem Buch über experimentelles Nähen (ich und nähen?!?) nicht an mich halten konnte, hob ich meinen HMI an oder doch ein wenig über den Höchstwert. Ganz normal scheint es mir dann doch nicht, so mir nichts, dir nichts ein neues Hobby aus dem Bücherregal zu zaubern. Wobei ich zu meiner Rechtfertigung sagen muss, dass ich mit dem Nähen noch eine Rechnung offen habe (ähnlich wie mit dem Stricken). Und auch wenn das neu erworbene Buch mir nicht gerade Hoffnung auf rasche Fortschritte macht, so setzte ich doch auf meinen reichen Erfahrungsschatz im Nähen ärmelloser Nachthemden. Zur Erklärung: zwei rechteckige, aber sehr liebevoll gesäumte Stücke Stoff, die ich ebenso liebevoll wie langatmig zusammengenäht habe, um ihnen dann als Träger zwei Bändchen zu verpassen. Weiter bin ich nie gekommen, aber es könnte ein Anfang sein, das rede ich mir ein, während ich höchst inspiriert durch Poppy Treffry's "Das etwas andere Nähbuch" blättere und sehr auf mütterlichen Nähbeistand im kommenden Herbst hoffe. (Besonders gefällt mir die Stelle: "Erwarten Sie sich von diesem Buch keine perfekten Anleitungen – es sind oft die zufälligen und glücklichen Fehler, die zu einem originellen Ergebnis führen." Glückliche Fehler? Das ist mein Zugang!)

Weitere philosophische Anwandlung beim Autoreisen: "Warum hab ich das Verreisen so gern?" – Meine Antwort an mich selbst: "Weil ich da meine Zehen am Armaturenbrett wackeln lassen kann und trotzdem die Straße sehe!" So einfach geht Glück!

Das erste Hochgeplänkel: DRESDEN

Nach geplanten 5 Stunden Fahrt, in Wirklichkeit aber ungeplanten 6,5 Stunden kommen wir in Dresden an. Das Wetter meint es gut mit uns, die Brauerei gleich neben dem Hotel auch. Gutes, wenn auch etwas krautlastige Essen und ein Entertainer, der bei Max Raabe beginnt und bei "Holzfällernächte sind lang" (mein Titel, wie ich ihn seit Kindheitstagen assoziiere, als ich endlich darüber hinweg war, an "Holzfällerhemden sind lang" zu denken, der natürlich "Kreuzberger Nächte sind lang" heißt) für höchste Erheiterung bei uns sorgt. Besser wird es noch bei "Ich trinke Bier und was trinkt Ihr? – Ich trinke Bier, das hält mich fit, wenn ich drei Liter drinne hab, dann drücktse mich im Schritt", was mir vor Augen und Ohren führt, dass australisches Englisch im Vergleich zu diesem Dialekt ein Kinderspiel ist, denn selbst diesen simpel gestrickten Refrain verstehe ich erst nach der siebenten Wiederholung.

Am nächsten Morgen sparen wir uns mühsame Parkplatz- und Autobussuche und radeln kurzerhand mit unseren Rädern, die wir für Rügen mitgenommen haben, in die noch unter einer Nebel-Dunst-Wolke stehende Stadt. Sehr sehr nett! Hugendubel lädt sehr klein, aber sehr fein und folgenschwer zum Büchershopping ein (siehe oben), der moderne Töpfermarkt bietet allerlei Keramiktellerchen für die nächsten Food-Fotos und auch sonst lässt es sich, auch mit dem kleinen Packtaschenkontingent, ganz gut shoppen. Man kann ja auch Einkäufe über den Lenker oder den Körper (eigenen oder fremden, also Mäxchens) hängen!

Das wahre Hochgeplänkel- die OSTSEEINSEL RÜGEN, blauer Himmel, blaue Stunde

Weitere 5 Stunden Nachmittagsfahrt bringen uns von Dresden nach Lauterbach/Putbus auf Rügen. Und hier erwartet uns ein Traumhäuschen, haargenauso wie gebucht – mit idyllischer Terrasse, luftigem Wohn-Ess-Raum mit Bullaugen und einem sensationellen Blick auf den Yachthafen und das Meer, das hier wohl eher ein "Bodden" ist, wie sie sie auf Rügen zu Dutzenden gibt. Ein schneller Supermarktbesuch und ein erster abendlicher Imbiss auf unserer Terrasse, bevor wir halbtot ins hüpfburgartige Bett fallen.

Am Sonntag Morgen werde ich gegen 6 Uhr wach, weil es bereits dämmert, eine Stunde früher als derzeit in Wien. Ich rase, so schnell es mit Bed Socks in Flipflops geht (ja, es ist abends und nachts etwas kühl) auf die Terrasse und raus auf den Steg zur Morgendämmerung.

Danach nochmal zurück ins warme Bett, ehe ein Frühstück auf der Terrasse und eine lange Lese-Klön-Einheit folgen. Gegen 10 Uhr sind wir dann soweit im Urlaub angekommen und haben uns ausreichend an der Idylle satt gesehen, dass wir uns auf die Räder schwingen und nach Binz aufbrechen. Die Radwege sind gewöhnungsbedürftig, weil teilweise eher Ratespiel, führen aber durch nette Weidelandschaft, ehe sich der Blick aufs Wasser eröffnet. Wow! Und wie leicht es mir heute wieder von den Wadeln geht! (Routinierte Blog-LeserInnen wissen: schon wieder bin ich unendlich gutgläubig dem Phänomen "Rückenwind" und "leichtem Abwärtsgefälle" aufgesessen!)

Kurz vor Binz dann ein erster Kulturstopp: bei einem Obststand verkosten wir alles Mögliche aus dem hier so häufigen Sanddorn. Gar nicht übel sogar der Sanddornhonig, obwohl ich keinen Honig mag! Und erst die Sanddornbonbons! Dermaßen gestärkt nehmen wir eine Steigung in Angriff, die über feuchte Kopfsteinpflastersteine führt, die so weit auseinandergesetzt sind, dass man mit dem Rad darin hängen bleibt. Was aber relativ egal ist: diese Steigung ist zum Schieben gemacht! Wieder einmal wünsche ich mir ein Fahrrad, das beim Schieben selbsttätig Schritt geht, also eben nicht geschoben werden muss. Eine Marktlücke?

Das Ostseebad Binz selbst ist dann eher eine Enttäuschung. Zwar traumhaft an einer wunderhübschen Bucht gelegen und voll niedlich-weißer Häuschen ist es doch so, dass wir den Altersdurchschnitt erheblich senken, das Tempo selbst zu Fuß allerdings rasant erhöhen, was nicht so gut mit dem Rest der anderen hier Anwesenden harmoniert. Eine belgische Hefewaffel mit Kirschen später sind wir wieder unterwegs. Und plötzlich geht es mir gar nicht mehr so leicht vom angestrengten Gebein.

Auf Kilometer 30 verende ich wie anno dazumal die österreichische Skilegende Werner Grissmann nach der Zwischenzeit. (Bloß dass bei uns zu diesem Zeitpunkt die Zwischenzeit schon lange vorbei ist, denn bei 36 km sind wir schweren Beines im Ziel.)

Der Grund: die Fülle an starken Steigungen, die selbst bergab mehr Ähnlichkeit mit Cross-Country und Trial-Rennen haben. Rügen ist nämlich fahrradtechnisch zu Sylt das, was das australische Outback zu den amerikanischen Highways ist: tiefer Sand, Kopfsteinpflaster, Steine, Schlaglöcher. Irgendwann höre ich auf, die beim Anblick der vor uns liegenden Steigungen eigentlich unnötigen Schilder mit der Aufschrift "11%" zu zählen. Das einzige, was hier mehr Prozent hat, ist das köstliche Sandkorn, äh Sanddorn, als Likör wohlgemerkt, den wir (siehe obigen Obststand) rechtzeitig vor einer der besagten Steigungen am Wegrand erworben und am Gipfel angekommen in einem Zug verdrückt haben. Okay, es waren nur 4cl, aber wenn man weiß, wie schnell meinereins an betrunkenen Beinen leidet, kann man sich vorstellen, dass dies eine herrliche Ausrede für die schweren Beinchen war.

Nach einer besonders steilen Stelle – ich ringe fast am höchsten Punkt angekommen um Luft – stoßen wir auf starken Gegenverkehr: es muss eine fliegende Krake mit mindestens 12 Beinen sein, die sich in meinen Schlund verirrt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich dabei um stark behaarte Beine handelt; acht bleiben mir hartnäckig im Hals stecken. Während ich die restlichen vier mit einem halben Liter Wasser zumindest in die Nähe des Magens spülen kann, kratzen mir die oben verbliebenen Beinchen ungelenk den Hals von innen.

Am frühen Nachmittag beenden wir unseren Ausflug dort, wo wir ihn begonnen haben: auf unserer Terrasse. Wir verteilen Sofa und Liege gerecht und tun, was wir nicht lassen können. Eine Siesta an der sonnigen Ostsee, mit sonnengerötetem Gesicht und Stapeln Büchern!

Es ist herrlich still hier auf der Terrasse um 4 Uhr nachmittags, bevor die ersten Boote in den Hafen einlaufen. So still, dass man hören kann, wie sich eine durstige Ente in 50 Meter Entfernung den Schnabel im Meer befeuchtet. I'm loving it!


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