Ich sage es nicht gerne, aber manchmal wünsche ich mir die gute alte Zeit zurück!
Aber da ich noch nicht soooo alt bin, dass ich sie mir ohne Einschränkungen zurückwünsche, habe ich wieder mal eine ganz individuelle Vorstellung, wie die Vergangenheit in die Gegenwart integriert werden könnte.
Mit Vergangenheit meine ich übrigens jene Zeit, als auf dem Frufru noch nicht "wie damals" stand. Als es noch Vierteltelefone und folglich sehr ungeduldige verliebte Teenager gab, als bazooka-Kaugummi bei der Tankstelle ums Eck 50 Groschen kosteteten, Keilabsätze und Toast Hawaii noch nicht in die Kategorie "Retro" sondern "Innovation" fielen, als man sonntags zum Einkaufen zur Nachbarin gehen musste und Tankstellen ausschließlich Treibstoff führten, Münztelefonzellen ideale Schmuseorte an Regentagen waren, als man Brieffreunden tatsächlich noch Briefe schrieb und man am Postamt noch nicht 30 Minuten auf Bedienung warten musste, als man Freundschaften noch im Hof und nicht an der Tastaur pflegte, als englische Bücher in Wiener Geschäften eine Rarität waren und nur über absonderliche Kanäle zu bestellen waren, als man noch richtige Nachschlagewerke benutzte, für die Diplomarbeit in eine physische Bibliothek gehen und dabei 120 Dateien mit je max. zwei Seiten anlegen musste, als jede Reise, ja sogar jede Stadtfahrt ein kleines Abenteuer war, weil es noch keine Navis zum Schummeln gab und Menschen noch mit Stadtplänen, mehrfach gedreht, an Kreuzungen standen und dabei schlicht den Weg und nicht einen Geocache suchten, als es autofreie Tage und zugehörige Pickerl gab, als man Comics-Hefte im Romantauschgeschäft tauschen konnte, als Chinesischessengehen a) noch als absolut frivol galt und b) Schweinefleisch süß-sauer das Nonplusultra der chinesischen Küche war, als man beim Wort "blackberry" noch an den Englischunterricht mit Ann und Pat und viele Vitamine oder zerstochene Finger dachte und als es am Weltspartag noch wirklich nützliche Dinge gratis gab (eine rote Lackgeldbörse und ein Plastik-Kalahari-Spiel, dessen ökologischer Fußabdruck wohl dem eines Riesen geähnelt hat, sind mir besonders in Erinnerung geblieben).
Heute wünsche ich mir Zeit zurück, die gute alte, in der es noch die magische Telefonnummer 1-5-0-3 gab. Damals konnte man nämlich die Zeit anrufen und tat dies auch regelmäßig, auch wenn ich mir heute nicht ganz erklären kann, warum. Genau genommen erscheint mir dieses Konzept heute so schräg, dass ich nur lachen kann. Vielleicht wünsche ich es mir ja genau deshalb zurück, obwohl es uns damals überhaupt nicht schräg vorkam. Diese Stimme, die heute jedes autogene Training ersetzen könnte, weil sie monoton aber punktgenau stimmungsvolle Dinge sagte wie: "Es wird mit dem Summerton siebzehn Uhr drei Minuten." Dann wusste obiger verliebter Teenager, wenn er nicht gerade knutschend in der Telefonzelle stand, während der Regen herunterprasselte, dass er, vorausgesetzt, die anderen Teilnehmer des Viertelanschlusses telefonierten gerade nicht, langsam daran gehen könnte, die neueste Flamme anzurufen. Das heißt: nein, natürlich erst, wenn der Summerton "siebzehn Uhr fünfzehn Minuten" gesagt hatte, denn man wollte ja schon damals nicht übereifrig bemüht wirken. Bis dahin war es also gut, der weiblichen Stimme zu lauschen und zu versuchen, sich zu entspannen. Dafür gab es allerdings auch andere Methoden.
Man konnte etwa auch die Hitparade anrufen und sich den Lieblingssong, der damals noch "Hit" hieß, vorspielen lassen. Da man den Text nicht verstand, konnte man dann in Fachgeschäften kleine Büchleins erwerben, in denen die englischen Liedtexte abgedruckt waren. Diese konnte man dann mehr oder weniger gut übersetzen (und folglich etwa den Berufswunsch "Übersetzerin" entwickeln), um diese dann mehr oder weniger gut mitzuträllern (besonders beliebt das Duett von Chris Norman und Suzi Quattro, das ich ganz alleine bewältigte), nachdem man die Lieder mehr oder weniger gut (definitiv meistens also fast immer weniger gut um nicht zu sagen schlecht) auf Kassette aufgenommen hatte. Das ging nicht ohne gröbere Flüche ab, die damals so unschuldig klangen wie "verdammter Mist", denn die Sprecher (die damals noch nicht "Moderatoren" hießen) hatten garantiert wieder in den Beginn oder in das Ende des Lieblingslieds hineingequatscht. So nisteten sie sich, Lieblingslieder wurden nämlich immer wieder zurückgespielt und ganze Nachmittage lang gespielt, auch in meinem Kinderzimmer ein. Udo Huber wohnte quasi bei mir, auch wenn ich ihm mitten im Satz die Aufnahme abgeschnitten hatte, weil ich es nicht ertragen konnte, dass er wieder einmal "Devoted to you" aus "Grease" verunstaltet hatte.
Überhaupt: welche Zeit damals, als man beim Wort "Single" noch an Musik von der Scheibe und nicht an mehr oder weniger glückliche Menschen dachte. Das waren noch Zeiten! Aber wie viel Zeit für all das aufging. Was mache ich heute mit all der Zeit, die ich damals am Telefon verbracht habe? Okay, das weiß ich natürlich: Blog schreiben und Internet surfen statt Videospielen vor dem Fernseher (Tennis mit seltsamen Fernbedienungen vor dem Fernsehgerät am Boden kauernd war sehr beliebt), Bensdorp-Schleifen sammeln, beim Ribiselgeleeeinkochen helfen und sonstige Aktivitäten, die sich Kinder von heute gar nicht mehr vorstellen können. Das war übrigens auch die Zeit, als man das Schmusen alle 25 Minuten, wenn man selbiges nicht gerade in besagter Telefonzelle tat, unterbrechen musste, um die LP (nein, das ist kein Betriebssystem!) umzudrehen – außer diese hatte einen Sprung und verlängerte sich somit von selbst, was nur dann nichts ausmachte, wenn man so vertieft (!) war, dass man dies gar nicht merkte.
Die Zeit hätte ich wirklich gerne zurück. Auch wenn es jetzt heißen würde: "Es wird mit dem Summerton Zeit, mit dem Blog aufzuhören und von der Virtuel Reality in das echte Leben zurückzukehren." Vielleicht könnte ja jemand eine kleine App dafür programmieren!