Wenn ich gewusst hätte, wie lustig es sein kann, eine Diebstahlsanzeige zu machen, hätte ich mir mein Fahrrad schon früher klauen lassen.
Wer viel Zeit, gute Nerven und einen ausgeprägten Sinn für Skurriles hat und sich auf eine kleine Reise in die Vergangenheit begeben (und begeben lassen) möchte, muss sich lediglich ein Fahrrad stehlen lassen. Vermutlich geht das aber auch mit anderen Dingen.
Als ich an diesem Vormittag das mir zugeordnete Wachzimmer (vormals Wachstube) betrete, stelle ich mir 1. die Frage, ob das "wach" im Zimmer und der Stube etwas über den physischen oder den mentalen Zustand der Stubeninsassen aussagt und 2. ob denn alle Wachzimmer so aussehen.
Dieses "So" erinnert nämlich an meine alte Volksschule. Und zwar, wie sie heute – 40 Jahre danach – aussehen würde, wenn kein Groschen und kein Cent in Renovierungsarbeiten geflossen wäre und die Personalaufwendungen sich maximal auf gemütsaufhellende Substanzen (nein, keine Lebewesen mit zwei (langen) Beinen!) beschränkt hätten. Bundespräsident Franz Jonas ist Bundespräsident Fischer gewichen, und dieser hat eine schwere Schräglage, denn der Rahmen, in den man ihn gepostert hat, ist etwa doppelt so alt wie der rührige BP und wölbt sich an den Kanten auf, dass es sich gut träfe, wenn demnächst ein neuer BP gewählt würde. Die ganze Farbgebung, wobei es sich hier fraglos um das Overstatement des Jahrtausends handelt, erinnert eher an die moderner Krimis, wo absichtlich mit Grau- und Sepiatönen gearbeitet wird. Nur ein winziges rot lächelndes Lämplein unter einem Blatt Papier wagt es, für einen fulminanten Kontrapunkt zu sorgen.
Der Beamte hinter der Theke, so sieht der Empfangstresen nämlich aus, trägt eine dunkelgraue Hose, ein beiges Hemd, einen mattweinroten Pullunder und ab dem Zeitpunkt meines Eintretens ein grimmiges Gesicht. Ich störe seine Vormittagsmeditation, nur auf den Yogasitz hat er scheinbar figurbedingt verzichtet. Nachdem ich ihm mein Anliegen – eine Diebstahlsanzeige für mein Fahrrad – erklärt habe, greift er zielstrebig nach einem Stapel Formulare, der der Schriftart und dem Gelbschimmer nach auf Papier der Vorkriegszeit gedruckt worden ist. Wobei: Gab es damals nicht so lustige Geräte, wo man das Papier zum Be-Kopieren durchdrehte? So sahen meine Biologietests in der Schule auch aus. Ebenso zielstrebig sucht er 2 Formulare aus dem Stapel heraus und beginnt, das erste Formular auszufüllen. Die ersten Fragen meistere ich mit Bravour, er weniger, denn er schreibt meine übliche Adressangabe "Viehtriftgasse wie das liebe Vieh" ohne stummes h. Wenn man bedenkt, dass 60% der Postbeamten, die in den Polizeidienst übernommen werden hätten sollen, die Aufnahmetests nicht bestanden haben, frage ich mich, wie diese meine Adresse und insbesondere das liebe Vieh wohl verunstaltet hätten. Egal, ich konzentriere mich auf die Fragen des engagierten Beamten, der an seiner Aufgabe minütlich wächst. Er fragt nach meinem Führerschein und studiert diesen ausgiebig, fällt dabei fast wieder in den meditativen Zustand, den er wohl vor meinem Eintreffen innehatte, beginnt dann allerlei Zeichen abzumalen, sinniert über den abgebildeten Fahrzeugmodellen, um schließlich festzustellen, dass ich nur einen Führerschein B besitze, und runzelt, wie fast schon zu erwarten war, schließlich die Stirn. Ich tue es ihm gleich, denn weshalb ist es für eine Fahrrad-Diebstahlsanzeige wichtig, welchen Führerschein ich besitze?
Er (zielstrebig weiter im Programm): Wann ist der Führerschein ausgestellt worden?
Ich (keine Ahnung, er hat den Führerschein in der Hand): Ähm, steht das nicht im Führerschein?
Er (hält mir den Führerschein unter die Nase): Oja, aber ich kann es nicht lesen.
Ich lese ihm das Datum vor, das zugegebenermaßen auch mir seltsam vorkommt, denn demzufolge hätte ich erst seit 11 Jahren den Führerschein. Überspiele meine Verunsicherung aber und widme mich ganz den nächsten Fragen, denn langsam geht es ans Eingemachte. Die Fragen nach Staatsangehörigkeit, Telefonnummer und sogar genauem akademischen Titel (welcher Mag. sind Sie also, Mag. phil. oder ???) bewältige ich gerade noch spielend. Wobei ich wirklich noch nie gefragt wurde, welchen Magister-Titel ich denn nun innehabe. Jetzt aber kommt es dicke.
Er: Wo sind Sie geboren?
Ich: In Wien.
Er: In Wien?
Ich: Ja.
Er: Wo genau?
Ich (ironisch): Sie wollen wissen, in welchem Krankenhaus ich geboren wurde?
Er (unbeeindruckt): Ja.
Ich (Wieso ist das wichtig für eine Diebstahlsanzeige?) Ich bin mir nicht ganz sicher, ist schon eine Weile her.
Er (sieht mich erwartungsvoll und verwundert an): Dann halt die erste Wohnadresse.
Ich (erleichtert) kann ihm souverän meine erste Wohnadresse nennen, wobei er sich schließlich mit dem Bezirk begnügt. Das beantwortet mir aber nicht, wozu das für eine Diebstahlsanzeige wichtig ist. Aber ich verzichte auf weitere verfahrenverlängernde Manöver und tue, was ich öfter tun sollte: ich schweige.
Nun geht es an die Schilderung des Sachverhalts. Und jetzt wird es erst richtig schwierig. Ich beschreibe, dass mein Rad vor der Haustüre unabgesperrt abgestellt war, die gesamte Wohnanlage aber durch versperrbare Tore eingezäunt ist.
Seine Schlussfolgerung: Also kann niemand Fremder in die Anlage.
Ich (leichtfertig): Theoretisch nicht, aber Zeitungsausträger, Werbeausträger und Briefträger kommen auch immer irgendwie herein.
Er (setzt den Kuli bei einem Feld auf dem Formular an): Also eine unversperrte Anlage.
Ich: Nein, sie ist unzugänglich, aber bei jedem Haustor kann wer Fremder hereinkommen, auch bei einem Wohnhaus muss man nur warten, bis jemand herauskommt.
Er (nachdenklich und verunsichert): Ja, das stimmt.
Schon bereue ich meine Aussage. Wortlos verschwindet der gute Mann. Als ich ihm nachblicke, sehe ich, dass das Hemd unter dem Pullunder ein Hangout ist, denn die Hemdzipfel baumeln unter dem Pullunder heraus und flappen fröhlich über seine weniger fröhliche, weil sehr graue Hose. Weg ist er, der gute Mann.
Mein Blick schweift durch das Wachzimmer, entdeckt einen Drucker, der zur ersten Generation von Druckgeräten zählen und wohl Altertumswert haben muss. Entdecke in einer Ecke ein ausrangiertes Rollkästchen ohne Fronten und an der einen Wand einen sehr alten Stadtplan, frisch aus dem Geschichteunterricht. Überlege ernsthaft, Stift und Block zu zücken und ein paar Notizen über dieses nahezu außerirdische Erlebnisse zu machen, unterlasse es aber in Ehrfurcht vor diesen historischen Räumen. Entdecke erneut den Bundespräsidenten, der schief über der Tür in einen Raum hängt, der den inhaltsschweren Namen "Schreibraum 1" trägt und sowas von dunkel ist, dass ich mir nicht ausmalen möchte, wie hier dann die Gefängniszellen aussehen. Außerdem: wie, Schreibraum 1? Gibt es hier gar mehrere Schreibräume? Der Beamte, der in diesem Raum sitzt, schreibt jedenfalls nicht. Er ist damit beschäftigt, seine Polizistenmütze auf dem Tisch zu arrangieren und auf sein Handy einzuklopfen. Naja, SMS-Schreiben ist für einen Schreibraum eigentlich auch ganz passend. Kurz wird er von meinem Beamten aus seiner Tätigkeit gerissen. Eine wichtige Frage wird für mich unhörbar erörtert und mit einem lapidaren "Glaub ich nicht" beantwortet. Gründlich wie mein Beamter nun ist, verschwindet er in einem langen dunklen Gang. Dumpf höre ich, wie sich erneut eine Diskussion ergibt. Nach gefühlten 10 Minuten kommt der Beamte mit seinen fröhlichen Hemdzipfeln zurück. Ich kann mir die Frage nach dem Problem nicht verkneifen und erfahre, dass eine Teamentscheidung darüber nötig war, ob meine Hausanlage nun als versperrbar oder nicht versperrbar anzukreuzen ist, wenn es denn hausfremden Personen gelingt hereinzukommen. Aber jetzt weiter im Text. Die Sachverhalte sind geschildert, die Felder angekreuzt, jetzt würde ich gerne unterschreiben und gehen, bevor mich hier eine schwere Depression ereilt.
Und wirklich, er reicht mir das erste Formular und fordert mich auf es zu unterschreiben.
Ich setze den Stift am entsprechenden Feld an, als er ruft: Nein, noch nicht unterschreiben!
Also was jetzt? Sie haben es mir doch gerade zur Unterschrift vorgelegt.
Er: Ja, aber Sie müssen es zuerst durchlesen.
Okay, aber wir haben doch alles genau besprochen. Doch er soll Recht behalten, es haben sich ja doch Fehler eingeschlichen – zweimal hat er das liebe Vieh eines stummen hs beraubt. Als ich zum Korrigieren ansetze, steht er auf und blickt neugierig auf das Formular. Wahrscheinlich hätte ich die Korrektur der Schreibweise meiner unsäglichen Adresse auf einem weiteren Formular beantragen müssen. Es geht doch nichts über etwas Eigeninitiative. Jetzt würde ich aber gerne gehen, die fröhlichen Gehirnzellen verweigern langsam den Dienst und wollen nicht mehr so recht. In diesen kleinen, dunklen Räumlichkeiten bekommen sie Platzangst – nicht, dass sie von den Weiten meines Gehirns so verwöhnt werden, aber ich bin mir sicher, dass es in meinem Gehirn viele bunte Flächen gibt, fröhliche Punkte und Kringel und so manchen knallfarbenen womöglich auch etwas durchgeknallten Streifen.
Er (unbeeindruckt von der bevorstehenden interzerebralen Krise meinerseits hält mir das zweite Formular hin): Und jetzt noch einmal in Ihren eigenen Worten.
Ich (Wie? Jetzt soll ich das alles nochmal in Aufsatzform schreiben?): Ich soll das jetzt nochmal schreiben?
Er: Ja, in Ihren eigenen Worten, nur damit alles seine Richtigkeit hat.
Als ob das vorher nicht auch meine eigenen Worte gewesen wären. Egal. Zügig schreibe ich die vier Sätze herunter und frage allzu kühn: Soll ich das auch gleich unterschreiben? (Schließlich weiß ich ja, was ich geschrieben habe.)
Er (aufgebracht): Nein, nein, ich muss zuerst noch ein paar Belehrungen aussprechen.
Wie?
Nach zahlreichen Sätzen, die durch ahnungsloses Nicken meinerseits, viele Fremdwörter und viele Kreuzerln auf dem Formular begleitet werden, bin ich also belehrt und darf unterschreiben.
35 Minuten später bin ich fertig, etwas staubig und ermattet von meiner Reise in die Vergangenheit gerade noch einer kleinen tristessebedingten Depression für zwischendurch entkommen. Und ich glaube zu wissen, warum so viele Postbeamte den Aufnahmetest nicht bestanden haben: man kann unserer Post vieles nachsagen, vieles auch zu Recht, aber mit ihrem sonnigen gelben Design sind sie zumindest nicht gemütsschädigend. Kein Wunder, dass auf einem solchen Wachzimmer kein Postbeamter seinen Dienst versehen will und so manch einer den Aufnahmetest vermutlich absichtlich verhaut hat. Und dass die Motivation der Polizei nicht sehr hoch ist, kann ich in Anbetracht dieses Wachzimmers auch sehr gut verstehen. Dafür ist eigentlich alles recht flott und erfolgreich über die Bühne gegangen. Jetzt würde mich nur noch eines interessieren: sehen alle Wachzimmer Wiens so aus? Könnte sich bitte einer der geneigten Blog-Leser in einem anderen Bezirk etwas klauen lassen und den großen Bezirkstest fortsetzen?
Ich kenne eines im 10., zumindest das sieht genau so aus!
Auch die Ereignisse dort sind ähnlich verlaufen – großartig geschildert 😉