99 Weihnachtssterne, Handys, Centimeter, Straßenbahnen, Nudeln und Hosen

99 Weihnachtssterne
Nach gerade mal zwei Tagen in Hongkong ist mir einiges klar geworden. So etwa weiß ich jetzt, woran es liegt, falls in Europa kurzfristig der akute Weihnachtssternmangel ausbricht. Die hübschen roten Sterme und ihre weißen Verwandten sind nämlich allesamt in Hongkong gelandet und zieren dort öffentliche Räume jeder Art: Hotellobbys, Hauseingänge, Rolltreppen, Übergänge und Geschäfte ebenso wie Verkehrsinseln – ob in hängenden Blumenampeln, mit Goldpapier überzogenen Töpfen oder fix eingepflanzt.
 

99 Tausend Handys
In ihrer Häufigkeit übertroffen werden die omnipräsenten Weihnachtssterne nur von wenigen Dingen, wie etwa den Handys. Jeder Mensch, der keinen Kinderwagen mehr benötigt, scheint eines zu besitzen und es permanent (sprich: ununterbrochen) zu verwenden, also auch im Gehen im dichten Gedränge der U-Bahn-Stationen, in den ebenfalls dicht gedrängten Straßen oder in den Straßenbahnen und Bussen. Das führt dazu, dass diese Personen entsprechend gedankenverloren und breitbeinig dahintaumeln und selbstvergessen telefonieren (eher selten), anscheinend sinnlos herumtippen (häufig) oder spielen (vorwiegend) und somit gerne sprichwörtliche Menschenaufläufe verursachen. Letzteres (das Spielen) gilt auch für Erwachsene jedes Alters. Aber diese tragen hier auch ungeachtet ihres Alters Micky-Maus- und Hello-Kitty-T-Shirts, rosa getupfte Strumpfhosen, knallpinke Kniestrümpfe, cartoonbedruckte Taschen, kindlich gestaltete Handy-Covers  oder sonstige Motive und Teile, denen man in Europa spätestens mit Schuleintritt entwachsen ist.

Diese Handy-Mania hat folgende Folgen: Einerseits schätze ich, dass sich die Chiropraktiker und Physiotherapeuten dieser Stadt zu den glücklichsten der Welt zählen dürfen; so viele Nackenprobleme vom steten gebeugten Stehen und Gehen wie hier wird es vermutlich nirgendwo sonst geben. Andererseits lebt auch die Zubehörindustrie davon: So viele Läden und Stände, die Zeugs (ein etwas grober Begriff für all die Hello Kitty-Motive und ähnliche Kindermotive) zum Individualisieren dieser Massenware führen, wie hier, kann man sich einfach nicht vorstellen. So besteht zumindest die leise Chance, dass, sagen wir nach einem gröberen U-Bahn-Unfall, die Abertausenden Handys, die man dann am Boden finden würde, irgendwie wieder den rechtmäßigen Besitzern zugeführt werden können.

99 Straßenbahnen
Zwischen modernsten Hochhäusern der Marke "Wall Street" und Mini-Läden der Marke "Abstellkammer" kann man sich nicht nur mit U-Bahn und mit Bussen fortbewegen, sondern auch mit zweistöckigen Straßenbahnen. Diese bummeln gemütlich durch die Straßen, als ob sie alle Zeit der Welt hätten. Das ist auch gut so, zumindest, wenn man mal einen SItzplatz im Obergeschoß ergattert hat. Oft zuckeln sie so langsam dahin, dass sie aufeinander auflaufen und dann in eine Richtung bis zu 9 Straßenbahnen hintereinander unterwegs sind. Da hat man dann die Qual der Wahl: Fährt man in der mit der Nespresso-Werbung (what else?) oder doch lieber mit der mit den goldenen Lindt-Bären (die mit dem Glöckchen!)?
99 Hosen
Ein bisschen Neapel-Feeling kommt in den Gassen auf, in denen die Wäsche zum Trocknen nach draußen gehängt wird. Doch damit nicht genug: So etwa werden (siehe nächstes Foto) auch Gemüsereiben zu den Hosen auf den Balkon gehängt oder (siehe übernächstes Foto) BHs gemeinsam mit den zu trocknenden Meerestieren getrocknet.
99 Tiger
Weihnachtssterne und Handys erhalten in puncto Häufigkeit weitere Konkurrenz: von namenlosen Gesundheitsläden, deren gewaltige Produktvielfalt sich unter dem Überbegriff "getrocknetes Meeresallerlei" zusammenfassen lässt und schon von Weitem am Geruch zu erkennen sind. So viel getrocknetes Allerlei in hübschen Kisten, Kästen und Säcken habe ich noch nie gesehen – und auch noch nie gerochen. Und obwohl in manchen Vierteln jedes zweite Geschäft ein solcher Allheilmittelladen zu sein scheint, erfreuen sie sich alle regen Zuspruchs. Auch ich musste natürlich meine Nase in einen solchen Laden stecken. Und fand ein Produkt, das ich angesichts seiner Verpackung auch erkannte: Tigerbalsam. Hätte meine Fantasie auch zuhause schon so weit gereicht, hätte ich mir sicher gewünscht, mir einen original chinesischen Tigerbalsam zu kaufen. Und das tat ich dann auch: ich entschied mich für den roten, den mir der Verkäufer als "hot" beschrieb. Nach einem langen Tag im Hotel angekommen, öffnete ich erwartungsvoll das hübsche Döschen. Und musste feststellen, dass man darin scheinbar auf den Tiger vergessen hatte. Herrlich roch das bräunliche Etwas nach Zimt und einem Hauch Gewürznelke. Eingedenk der Warnung "hot" trug ich es andächtig und vorsichtig auf den beleidigten Ischiasnerv auf und wartete auf eine Wirkung. Nichts, zumindest wenn man von einem feinen vorweihnachtlichen Zimtaroma absieht, das sich im Hotelzimmer ausbreitete. Max, Pragmatiker wie immer, schlug vor, den Inhalt des Döschens anzuzünden, er hielte es für eine Duftkerze. Ich stand also da, mein Kreuz duftend nach Zimt und etwas Gewürznelke, kein Tiger weit und breit. Nur in einem Punkt behielt der Beipackzettel recht: Der Inhalt des Döschens hinterließ tatsächlich die versprochenen unschönen Flecken auf der Kleidung.
99 Nudeln
Im Essen schlägt sich das getrocknete Meeresgetier wenn, dann nur in der besten aller Formen nieder, denn alles schmeckt ganz köstlich, und die nächsten GENUSSMEILEN sind gerettet, zumindest wenn wir irgendwo passende Rezepte für die wunderbare Erdnusssuppe mit Nudeln und Faschiertem, die steamed buns mit barbecued pork-Fülle, den crispy fish in sweet & sour sauce, die Frühlingsrollen mit Gänseleberfülle und die Vielzahl an unschlagbaren Dim Sums finden. Obwohl die Erdnusssuppen bislang alle eine ziemliche Herausforderung darstellten. Sie werden prinzipiell mit langen, um nicht zu sagen sehr langen Nudeln als Einlage serviert – und natürlich mit Suppenlöffel und Stäbchen. Als ob das noch nicht schwierig genug wäre, handelt es sich bei den Nudeln zumeist um besonders glitschige Modelle, die sehr gerne auf dem Weg von der Schüssel zum Mund T-Shirt oder Tischtuch beschmutzen – meistens eines nach dem anderen. So gesellen sich die Suppenflecken dann also zu den Tigerbalsamspuren, was nach 99 Tagen vermutlich ein interessantes Tagebuch in Textil abgeben wird.
99 cm Beinfreiheit oder 99 mal Frieden
Man neigt als Europäer ja in Asien schnell dazu, sich als eine touristische Minderheit zu fühlen, da man die anderen Touristen – zumeist auch Asiaten – nicht immer auf den ersten Blick als solche erkennt. Zu gut fügen sie sich in die Millionen einheimischer Chinesen ein: Die Kniestrümpfe der Frauen haben eine für mich erschreckende Länge erreicht, während die Miniröcke im Bestreben, die Menge an freiem Bein gleich zu belassen, entsprechend kürzer geworden sind. Das führt dazu, dass viele der Frauen hier für mich von den Schuhen bis zu den Knien wie sehr brave Schulmädchen aussehen, was aber ab dem Oberschenkelansatz, wo die Röcke zumeist enden, nicht mehr ganz zutrifft. Als Touristen enttarnt man sie dann aber doch irgendwann, spätestens wenn sie euphorisch das Peace-Zeichen in die Kamera halten, ob vor einem Baum, einem Boot oder einem Bauwerk. Selbst kleine Kinder, die noch wackelig auf den Beinen posieren müssen oder dürfen, beherrschen das Peace-Zeichen schon besser als den sicheren Gang auf zwei Beinen, auch wenn sie dabei manchmal etwas ins Wackeln kommen – so gut ist ihr Gleichgewichtssinn eben noch nicht entwickelt.
Fortsetzung folgt…

 


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